„Menschwerdung“

Silvia hat Sebastian Kurz einen vorweihnachtlichen Brief zur „Menschwerdung“ angesichts des Elends der Geflüchteten auf Lespos geschickt:

Menschwerdung

Ich stelle mir vor, wie Sie, Herr Bundeskanzler mit den Mitgliedern Ihres Kabinetts an einem großen, langen Tisch sitzen. Wie Sie sich in der gegenseitigen Argumentation bestärken, warum es nicht möglich sei, Menschen aus dem Lagern auf den griechischen Inseln wie Kara Tepe nach Österreich zu holen. Ich stelle mir vor, wie Sie darüber reden, dass hier ein Abweichen Ihre Linie Ihre Position schwächen würde. Ich stelle mir vor, wie Sie sich darin bestärken, dass die Menschen in Österreich, die schon mit der Pandemie zu kämpfen haben, kein Verständnis dafür hätten, wenn da jetzt noch Flüchtlinge ins Land kommen würden. Ich stelle mir vor, dass Sie all diese Argumente schon ganz oft ausgetauscht haben und immer wieder zu der Erkenntnis gelangen, dass die Position, die Sie einnehmen, die einzig vernünftige sei. Ich stelle mir vor, wie Sie abschließend sagen: „Also wir bleiben bei unserer Message: Hilfe vor Ort!“

Ich stelle mir das Wimmern des 3-jährigen Mädchens vor, das im Lager Kara Tepe missbraucht und schwer traumatisiert neben den Toiletten gefunden wurde. Ich stelle mir die Angst der Kinder vor, die kaum etwas essen und trinken, damit sie nachts nicht durchs Lager zu den Toiletten gehen müssen. Ich höre die Schritte der Kinder, die in der Nacht aufschrecken und wie in Trance zu laufen beginnen, weil ihre Körper abgespeichert haben, dass sie laufen müssen, wenn sie überleben wollen. Ich spüre die Verzweiflung dieses siebenjährigen Jungen, der einfach nur mehr sterben will. Ich stelle mir die ständig nassen Füße der Erwachsenen vor, die im Schlamm waten, weil das Wasser nach den starken Regenfällen nicht mehr weggeht. Ich stelle mir die vielen Frauen vor, die Gewalt erleben an ihren Körpern, und die stiller und stiller werdenden Männer, weil sie nichts tun können.

Und dann stelle ich mir vor, dass Sie, Herr Bundeskanzler und Ihre Kabinettsmitglieder, an diesem langen Tisch sitzen und darüber zu sprechen beginnen, dass die Menschen, die dort leben, unsere Brüder und Schwestern sind. Dass es Sinn macht Familien mit Kindern hier in unserem Land Platz zu geben, weil die Hilfe vor Ort nicht funktioniert und dass Sie als Politikerinnen und Politiker doch Vorbilder sein müssten. Ich stelle mir vor, wie die Gesichter all der Menschen, die um diesen Tisch sitzen, weich werden und dabei ihr Rückgrat gerade wird. Ich stelle mir vor, dass irgendjemand in dieser Runde sagt: „Ja, wir helfen, weil Menschen in Würde leben müssen.“ „Ja, wir helfen, weil wir für eine aufgeschlossene und humanitäre Gesellschaft stehen.“ „Ja es ist unsere Verantwortung.“ Ich stelle mir vor, dieser Raum füllt sich mit Hoffnung und es geschieht, was wir Christinnen und Christen an Weihnachten feiern: „Menschwerdung“.

Silvia Aichmayr

Betriebsseelsorgerin am Standort voestalpine Linz

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